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Gegen Wahlen

Nicht minder reißerisch klingt der Titel von David Van Reybrouks neuestem Sachbuch. Was im ersten Moment plump und provozierend klingen mag, entwickelt sich im Laufe der haarscharfen Analyse zu einem interessanten Denkanstoß, der uns immer wieder fragen lässt: Wieso sind wir der Überzeugung, dass wir durch Wahlen zu einer gelungenen Demokratie kommen?

Eine Rezension von Carlos P. Reinelt


„Es ist seltsam mit der Demokratie: Jeder scheint sich danach zu sehnen, aber keiner glaubt mehr daran.“

– so der Einstieg. Tatsächlich zeigen Statistiken (die Reybrouk sorgfältig anführt), dass über 90% der zivilisierten Gesellschaft die Demokratie befürworten – so viele wie noch nie zuvor. Doch während die Beliebtheit der Demokratie stetig steigt, sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich in fast allen Ländern. Was ist da schief gelaufen?

Als Ursache für diesen Zustand stellt Van Reybrouk das „Demokratie-Ermüdungs-Syndrom“ in den Raum. Die Menschen scheinen Wahlen satt zu haben, ihre Auswirkungen auf die reale Lebenssituation werden immer mehr angezweifelt. Als Beispiel können wir ja mal die ÖH-Wahlen in Salzburg heranziehen, wo 2015 lediglich 23.1% der Student*innen den Weg zur Urne antraten. Und wenn man das Kasperltheater an der Uni Salzburg mitbekommen hat – Leute, die Fraktionen wie Turnschuhe wechseln und dann die parteipolitischen Kampfparolen täglich in Social Medias rausschreien, Hetzkampagnen gegen einzelne Personen führen und der stetige Drang (z.T. bewusst falsche) Informationen in die Presse zu bringen – stellt sich die Frage: Wird es sich bei der nächsten Wahl überhaupt noch jede*r Fünfte antun?

Nun bevor wieder der Vorwurf kommt, ich wäre angefixter Schreiberling einer Fraktion (wobei man sich nie entscheiden kann, für welche. Ich arbeite ja anscheinend abwechselnd für VSStÖ, GRAS und RFS. Dass man mich noch nie mit den Kommunisten in Verbindung gebracht hat? [1] Oder noch schlimmer, der AG?) zurück zur Lektüre: Für die Abhandlung des „Demokratie-Ermüdungs-Syndroms“ wird das Buch in 4 Teile geteilt: Symptome, Diagnose, Pathogenese und Therapie.

Gegen Wahlen

Nach Reybrouk braucht eine politische Führung eine passende Balance aus Legitimität und Effizienz. Eine Diktatur z.B. ist durch die Alleinherrschaft sehr effizient, aber nicht legitim. Wenn wir für jede politische Frage alle Bürger*innen miteinbeziehen würden (wie es z.B. die Occupy-Wall-Street Bewegung versuchte), genössen die Entscheidungen zwar höchste Legitimität, das System wäre aber untragbar ineffizient. Und heute scheinen wir in der kruden Situation zu sein, dass die politischen Vertreter nicht legitimiert scheinen (Who the fuck really wants a Rot-Schwarze Regierung???) und zudem nicht effizient sind (als Beleg *hust* ziehen wir doch einfach noch mal unsere Regierung heran).

Bewegungen wie #NotmyPresident, betreffen sie nun den neoliberalen VDB oder den nicht ganz so neoliberalen Trump, genießen große Beliebtheit. Irgendetwas stimmt nicht. Und als Ursache heißt es dann mal „es liegt an den Politikern“ (diese Unmenschen!), an der „Demokratie“ (Wir brauchen lieber Experten, Manager, Expertenmanager überall!) oder an der „repräsentativen Demokratie“ (Direktwahlen sofort! Wie in der Schweiz! Dann verbiet ma endlich Bilderbuch, diese Scheißband!).

Dass solche Reaktionen aufkommen, wenn politische Parteien zu bloßen Wahlkampfvereinen verkommen, mag verständlich sein, aber wirkliche Lösungsansätze bieten sie nicht. Van Reybrouk wählt als Alternative einen gewagten Ansatz, den man nicht unkritisch hinnehmen sollte: das Losverfahren. Sieht man sich die Geschichte der Demokratie an, kommt man nicht umhin festzustellen, dass das Losverfahren lange Tradition hat. So war das Los fixer Bestandteil der Attischen Demokratie, und erlebte in der Renaissance eine Renaissance (habe den Redaktionsschluss schon überschritten, bessere Wortwitze brauchen mehr Zeit [2]). Wirklich spannend wird es im Hinblick auf das Entstehen der ersten Demokratien im ausgehenden 18. Jahrhundert. Was heute dubios wirkt, war damals eine heiß diskutierte Frage: Will man die Demokratie auf Wahlen oder Losverfahren aufbauen?

Einige Stimmen sympathisierten mit den Gedanken Aristoteles‘, Rousseaus oder Montesquieus, nach denen das Losverfahren demokratisch, das Wahlverfahren aber aristokratisch sei. Und tatsächlich zeigt uns die Geschichte, dass nach den Revolutionen in den USA und Frankreich nur eine begrenzte Anzahl der Menschen wählen durfte – und eine noch viel kleinere Anzahl die Möglichkeit hatte, gewählt zu werden. Wenn man den Bogen wieder in die Gegenwart spannt, werden einem viele Politiker-Dynastien á la Bush und Clinton einfallen, deren große Rollen in der Politik mehr als fragwürdig sind. Auch gewählte Vertreter wie Erdoğan oder Putin, die sich durch eine autoritäre Staatsführung und menschenverachtende Politik par excellence auszeichnen, sind durch Wahlen legitimiert. Wahlen als Bollwerk gegen Faschismus funktionieren nicht.

Das Buch bietet in dieser Hinsicht Denkanstöße in viele Richtungen und endet mit einem Appell für das Losverfahren. Wer sich eine zähe PoWi-Wichserei erwartet, wird enttäuscht. Es liest sich trotz ausführlicher Analyse und präziser Recherche sehr kurzweilig, schreiben kann er, der Van Reybrouk. Es wirkt manchmal sogar so einfach, dass man sich stirnrunzelnd fragen muss, ob hier nicht zu komplexe Probleme mit einer zu einfachen monokausalen Lösung behandelt werden. Popper lässt grüßen.

Denn bei all den gut durchdachten Argumenten für das Losverfahren muss festgehalten werden, dass das Wahlverfahren schon viel härter auf die Probe gestellt wurde. Das Losverfahren mag zwar älter sein, ist aber dennoch nie in einem solchen Ausmaß angewendet worden wie die Wahlen: Tausende Wahlen, abertausende, in denen wir all die Nachteile des Systems erkennen und kritisieren durften. Welche Mängel das Losverfahren hat, würde sich vermutlich auch erst durch solche Härteproben zeigen. Einen Versuch wäre es alle mal wert. O O O X

Gegen Wahlen


1 Anm. d. Red.: Carlos Reinelt ist kein Kommunist. Er ist vielleicht ein Lügner, ein Schwein, ein Idiot, ein Kommunist, aber er ist ganz sicherlich kein Pornostar.

2 Anm. d. Red.: Für die uni:press reicht das schon.

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